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Die Suche geht weiter


Nachdem alle mehr oder weniger wieder stabilisiert waren nach dem Durcheinander, lichtete sich Edwins und Elwiras Zimmer. Die Neulinge gingen entweder in ihre Zimmer, um dort zu malen, basteln, lesen, sich in Hängesesseln zu lümmeln, oder nach draussen, in Elwiras und Edwins Aussenwelt im Körper von Victoria.
„Wie soll es nun weitergehen?“ fragte Elwira. „Wir müssen nun sicher weiter hinein in die Körperwelt Victorias“, entgegnete Edwin. „Dann mal los!“
Und sie marschierten los, hinaus in den Körper Victorias. „Hey, schau mal“, forderte Edwin Elwira auf. „Da ist kurz nach der Höhle wo wir Vicky gefunden hatten, auf der anderen Seite auch ein Raum. Ziemlich düster… Aber wir sollten nachschauen…“ Langsam und vorsichtig näherten die beiden Kids sich dieser weiten Öffnung. Der Raum – oder was es war – hatte keine Türe. Aber es herrschte Dunkelheit. Edwin und Elwira traten langsam, und jederzeit auf Rückzug gefasst, in diesen… Raum… Nach ihrem Eintreten hielten sie inne. Elwira flüsterte: „Hast du auch den Eindruck, dass dieser Raum sehr gross ist und mit vielen Menschen gefüllt ist?“

„Ja“ flüsterte Edwin zurück, „vor- oder rückwärts. Was machen wir?“

„Vorwärts. Es kann nur noch schlimmer kommen, wenn ich zum Beispiel an Mara und ihr Wölfchen denke, der sich in einen ausgewachsenen Wolf verwandeln kann! Aber vergiss nicht: wir werden immer älter, grösser, stärker mit unseren Erfahrungen!“ endete Elwira.
Langsam gewöhnten sich die Augen der beiden Kinder an die Dunkelheit und damit schien es heller zu werden. Trügerisch…
Da drang ein beissender Gestank aus diesem „Etwas“! Edwin und Elwira liefen Tränen über die Wangen, und sie zogen Taschentücher über ihre Nasen. Alle Menschen waren irgendwie grau, und etwas wie ein schmutziger, leicht brauner Schleier umfing sie. Keine einzige frohe Farbe. Kein Lächeln. Abwesende, wie in Watte verpackte Blicke. Elwira fürchtete sich nun wieder stärker, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
„Edwin! Das sind fast zerfallene braune Zwiebeln. Ich hasse Zwiebeln.“ Langsam, vor sich hin schniefend, schauten sich Edwin und Elwira um. Gingen sogar noch ein wenig näher. Sahen etwas besser und erschraken! Jede Person hatte Ähnlichkeit mit der anderen. Das Einzige, was sie unterschied, war das Alter. Vom Säugling bis zu erwachsenen Frauen, Männern und Kindern. Alle Augen sprachen von Traumata, von Hofnungslosigkeit, Aussichtslosigkeit, Ergebenheit, Gewissheit um das ewige Ende... Elwira und Edwin gingen langsam an der langen Schlange entlang, denn diese Menschen standen in Reih und Glied. Die Kleinsten lagen jedoch am Boden. Das Ganze war menschenunwürdig, und doch war nicht klar, was zu tun war, woher diese Menschen kamen und was Elwira und Edwin nun tun sollten. Schliesslich sprachen sie eine ältere Frau an: „Wer bist du, und wer sind all diese Leute?“

Mit fast blinden, nach innen gerichteten Augen und leiser Stimme, die weder Höhen noch Tiefen hatte, sprach sie: „Wir sind eins und alle. Viele Teile und ein Ganzes. Insgesamt sind wir über 50 Leute. Aus jedem Jahr Martyrium ein zurückgelassenes Baby, Kind oder Erwachsener. Vor nicht langer Zeit stiessen zwei traumatisierte Anteile in kurzen Abständen zusätzlich zu uns.“

Elwira fragte ziemlich verzweifelt: „Was können wir für euch tun?“, und die Frau antwortete tonlos: „Nichts. Noch nie hat uns jemand helfen können! Eigentlich wollte sich auch noch nie jemand um uns kümmern. Wir wussten nicht, dass da andere sind. Wer seid denn ihr beide? Weshalb schmerzen meine Augen, wenn sie euch ansehen? Ihr seid zu hell. Wir sind so etwas nicht gewöhnt.“

„Ich heisse Elwira und der Junge neben mir ist Edwin. Wie heisst du?“

„Jada.“

„Wir sind unterwegs, um Menschen wie euch zu finden und ihnen zu helfen – falls wir können. Deine Augen schmerzen wohl, weil wir farbenfrohe Kleider tragen und auch unsere Augen hell sind. Es, es tut uns leid, dass ihr alle hier so lange ein tristes Dasein führen musstet! Vielleicht können wir euch ein kleines bisschen helfen?“

Die Frau sagte: „Es wäre schön und gäbe etwas wie Hoffnung. Dieses Gefühl ist ganz neu für mich. Es darf nicht zu stark werden. Es könnte schmerzen.“

„Edwin, zeichne ein ganz klein bisschen Licht. Malen wir bei jedem Anteil ganz wenig Farbe in ihr Grau. Vielleicht…“

„Lasst eure Finger von uns!“ schrien gleich mehrere im Chor.

„Wir wollen euch nichts tun“, versuchte Edwin zu schlichten. „Ich bin sicher, es wird jedem von euch guttun! Darf ich?“

„Nein“, sagte ein Mann, „weder jetzt noch gestern noch irgendwann! Wir bleiben für uns. Die Welt ist gefährlich! Hier unten sind wir sicher! So sicher wie man sein kann, wenn alles unsicher ist.“

Jada, die mit Elwira gesprochen hatte, stand mit gesenktem Kopf da und flüsterte: „Es sind noch zu viele, die nur einen Blick haben; den in die Vergangenheit. Nur eine einzige Sicherheit; das Alte aus der Vergangenheit. Wir sind innerlich aneinander gefesselt. Alle oder keiner.“

„Aber das ist nicht wahr!“ versuchte Elwira Jada zu überzeugen. „Du könntest die erste sein, die sich verändern lässt!“

„Alle oder keiner“ klang es jetzt im Chor aus diesem langgezogenen Klumpen Menschen, in dem jeder für sich alleine war und ihre Vielzahl ihnen keinen Schutz bot, sondern noch mehr Knechtschaft. „Aneinander gefesselt…“ flüsterte Elwira vor sich hin. Erst bei diesem Gedanken sah sie, dass diese Menschen wirklich aneinander gefesselt waren. Nicht nur innerlich, sondern auch äusserlich wie durch Spinnweben, leicht, verschleiernd und durch die bräunlichen Zwiebelringe doch festgezurrte Fesseln.
„Wir müssen wohl den Beginn dieser Zwiebelringe finden und das Ganze nach und nach aufdröseln.“ Die Babys und Kleinkinder hatten zu weinen begonnen. Diese Auseinandersetzung machte ihnen Angst. Und wohl machte ihnen die Sprache an und für sich Angst. Es schien nicht so, als würden sie normalerweise miteinander sprechen und die Kleinen trösten oder beschwichtigen, nicht einmal in die Arme nehmen! Die einzelnen konnten ja nicht einmal für sich selbst sorgen. Wie traurig! Doch dass die Kinder weiterhin entblösst, grau, traurig, traumatisiert da am Boden liegen bleiben sollten, das sah Elwira nicht ein! Wenn auch die meisten erwachsenen Anteile kein bisschen Farbe und anscheinend auch keine Aufmerksamkeit wollten, die Kleinen sollten dies bekommen. Sie fühlte sich wie eine Löwenmutter, die ihre Jungen verteidigen musste. „Edwin, wir zeichnen für die Kleinen ein grosses Bett, damit nicht plötzlich alle voneinander getrennt werden. Das könnte eine Retraumatisierung zur Folge haben. Ich denke auch, dass wir die Farben noch nicht gross verändern sollten. Ich meine: auch die vom grossen Bett nicht. Ein bisschen blaue, weisse und grüne Farbe in das Grau und dann scheint alles etwas frischer und heller.“

„Dann mal los“ sagte Edwin. Und er zeichnete mit seinen lebendigen und Leben gebenden Kreiden ein grosses Bett und die notwendige Bettwäsche, währenddessen Elwira sich vorsichtig einem Kind nach dem anderen näherte, um es angemessen neu einzukleiden im abgemachten leicht farbigeren Grau. Die Kinder schienen zufriedener zu sein. Endlich froren sie nicht mehr! Und die älteren Menschen schauten zwar sehr skeptisch, aber in ihren Augen war etwas Lebendiges, auch wenn man es suchen musste. „Auch diese kriegen wir weich“, meinte Edwin mit einem Grinsen. „Tschüss miteinander! Wir kommen wieder, versprochen!“ Es kam keine Antwort zurück, und Elwira und Edwin verliessen dieses Verlies.