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Leseprobe aus "Die Spur der verlorenen Kinder"


Ein Blick in den Spiegel zeigte eine übergewichtige, kleinere Frau mit braunen schulterlangen Haaren und blauen Augen. Am besten gefiel ihr ihre Nase; außer ihrer eigenen Mutter hatte niemand, den sie kannte, so eine knubbelige Nase. Victoria hatte sehr feines, aber doch dichtes dunkelblondes Haar, auf dem meistens ein Hut oder eine Schirmmütze thronte. Victoria liebte Hüte, Brillen und Ketten! Wenn es ihr gut ging, machte sie sich gerne so zurecht, wie es ihr gefiel.
Sie war sehr unglücklich über ihr Übergewicht – sie hatte bereits so vieles versucht und kannte den Jo-Jo-Effekt nur zu gut! Einmal ab-, dann wieder zunehmen. Aber vielleicht hatte sie ja diesmal die Diät über den Diäten gefunden, und so manche Krankheit würde damit ausradiert.
Das lassen wir nun einmal aussen vor und begeben uns ins Innere Victorias. Dort werden wir von Dingen hören, die wir noch nie gehört und schon gar nicht irgendwo gesehen haben und deshalb schwer nachzuvollziehen sind.
Wenn Sie allerdings jemand sind, der anderen grundsätzlich nicht glaubt, dann sollten Sie dieses Buch gar nicht erst lesen…!


Ein Mädchen und ein Junge

Das Mädchen trug einen orangefarbenen Pullover, eine braune Hose dazu, und ihre langen hellblonden Haare waren zu einem Zopf gebunden. Ihr linkes Auge war etwas grösser als das rechte. Doch das störte sie nicht – genau so wenig wie ihre Sommersprossen. Sie war lebhaft, und mit ihr war es immer lustig und spannend.
„Meistens jedenfalls“, meinte der Junge. Die beiden waren unzertrennlich. Der Junge trug seine dunklen Haare in kurzen Locken.
„Krausi solltest du heißen“ meinte das Mädchen manchmal schalkhaft, denn er hatte mehr Locken auf seinem Kopf, als Millionäre Geld auf ihren Bankkonti. Er trug blaue Trägerhosen, darunter ein rotes T-Shirt und war wie das Mädchen sechs oder höchstens sieben Jahre alt. Es war Jahrzehnte her, seit sie so groß wie ihr Körper gewesen waren. Sie hatten damals, bevor sie im Inneren des Körpers verschwinden mussten, sogar angefangen, einen Kindergarten zu besuchen. Damals war der Körper, in dem sie wohnten, noch genau so klein, wie sie beide es seither geblieben waren. Erinnerungen aus und vor ihrer Kindergartenzeit hatten sie nicht mehr viele, denn abrupt wurden sie eines schrecklichen Tages in den Körper hineingeschleudert, und seitdem war es ihnen nur noch möglich, aus den Augen des Körpers nach draußen zu schauen. Aus den Augen eines Körpers, der Jahr für Jahr grösser und älter wurde.
Ohne die beiden Kinder, die in ihrem Alter blieben. Hinausgehen oder hinausklettern war nicht mehr möglich. Sie mussten sich in dem einstmals ihnen gehörenden Körper eine Welt für sich erschaffen, merkten jedoch schnell, dass es auch einiges gab, das sie nicht ändern konnten. Aber das hatte mit der Beschaffenheit des Körpers an und für sich zu tun und nicht mit der Beschaffenheit ihrer eigenen im Körper geschaffenen Welt. Edwin und Elwira, so waren ihre Namen, ließen bleiben, was sie nicht ändern konnten und schafften sich eine Welt inmitten des Körpers, die nur ihnen gehörte, denn sie hatten viel Fantasie, viele Interessen und waren immer für etwas Neues zu haben! Es gab viele Wege aus ihrem Zimmer in ihr eigenes geschaffenes „Draußen“: eine Welt nach ihrer Erinnerung, Wünschen, Ideen und Träume (Albträume selbstverständlich ausgeschlossen!). Berge, Seen, Tiere (auch Tiere, die es auf der Erde nicht gab), Wiesen, Bäume – so wie sie es aus den Augen sahen und von früher her noch in Erinnerung hatten und ihre Fantasie ihnen vorgab.
„Fang mich doch!“ forderte Edwin Elwira auf. Wie ein Irrwisch drehte Elwira sich um und sauste ihm hinterher. Sie rannten beide auf einen Raum zu. Dunkel genug, um sich darin verstecken zu können und doch blieben beide an der fehlenden Tür so stocksteif stehen, als wären sie aus Stein. Der Raum war so dunkel, dass er nicht wie ein Raum aussah. So dunkel wie das Nichts! Die beiden Kinder schauten sich fragend und ängstlich an. Konnte das… War das etwa… War das wie in anderen schwarzen Räumen, die sie inzwischen kennengelernt hatten? Doch jedes Mal wurde ihnen befohlen – von wem? – sie müssten in ihr Zimmer zurück. „Sie“ wollten verhindern, dass Elwira und Edwin sich einmischten. Plötzlich in den Augen auftauchten. Sie waren in diesem Körper eingesperrt...