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26.10.98

Ich habe eine furchtbare Nacht hinter mir! Ich musste bei Licht schlafen, so sehr hatte ich Angst und schreckte immer wieder aus einem unruhigen Schlaf auf!
Ganzer Tag Durchfall wie Wasser. Abends Migräne. Trotz allem: Meine Therapeutin, Tabita, sprach mir ein Lob aus: „Das ist ganz toll, dass du nicht durchgedreht hast!“


28.10.98


Immer noch Nachwirkungen vom Flashback. Ich musste den Termin bei Tabita absagen. Ich kann keine halbe Stunde außerhalb meines Bettes sein, ohne dass mir so seltsam wird und ich das Gefühl habe, gleich ohnmächtig zu werden.

Info: Die Nachwirkungen von Flashbacks können sehr weitreichend sein. Physisch: Durchfall, Übelkeit, Erbrechen, Bauchkrämpfe, Migräne, Schwindel, Husten, Temperatur, totale Erschöpfung. Psychisch: Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Einsamkeit, Trauer, Leere, Panik, Angstzustände.
An Husten und Migräne litt ich bereits von Kind an und viele Jahrzehnte sehr stark. Inzwischen habe ich nur noch selten Migräne. Vor allem dann noch, wenn ich zu sehr im Stress war oder bin. Und auch mein Husten ist drastisch zurückgegangen. Ich denke, dass das Verarbeitungserfolge sind.


05.11.98

Es sind zwar gut zwei Jahre her, seit ich von dort geflohen bin, aber nur sehr wenige wissen eigentlich warum. Und ich will nicht, dass dieses Nicht-Wissen sich weiterhin beim einen oder anderen als „Es war nicht richtig, dort wegzulaufen“ festsetzt. Ich möchte mit diesem Rundbrief erreichen, dass alle meine Freunde den gleichen Wissensstand haben, was diese Zeit betrifft und dann ist dieses Kapitel in diesem weitreichenden Ausmass abgeschlossen. Deshalb ist es mir ein Anliegen, darauf bei meinen Freunden und Brieffreunden einmal ausführlich einzugehen.

Hier ein paar Aufschlüsse:
Wer sich „danebenbenahm“, wurde von den übrigen WG-lern in die Zange genommen. Hatte man keine guten Gründe zur Hand, warum man sich so oder so verhalten hatte, weil man sich darüber noch nicht im Klaren war oder wenn den Leitern die Antwort nicht gefiel, tönte es so:
„Wir alle wissen ganz genau, warum du dich so verhalten hast. Es war aus diesem und diesem Grund. Wir alle wissen es! Du weisst es auch! Du willst es nur nicht zugeben.“ Schlussendlich, vielleicht nach Stunden, gab man „es“ zu, auch wenn „es“ nicht stimmte. Wenn sie nur aufhörten, einen zu bedrängen! Doch bevor man sich danach nicht gehörig gedemütigt und die anderen nicht kriecherisch um Vergebung gebeten hatte (auch wenn man sich keiner Schuld bewusst war), wurde die Tortur nicht beendet! Und natürlich musste man die angemessene Bestrafung, die sie Konsequenz nannten, gleich selbst vorschlagen ... Man zog immer den Kürzeren! Und vielleicht musste man, damit man „zur Besinnung kam“, sogar stundenlang in einer Ecke stehen. Ohne Essen, ohne auf die Toilette zu dürfen, ohne sich die Nase putzen zu können.
Oder wie wäre es damit: Wir durften untereinander nicht über Probleme, Fehler oder Ungerechtigkeiten der Leiter oder Mitarbeiter reden, sonst wurde man, fand es jemand heraus, bestraft. Und irgendwie fanden sie immer alles heraus, weil irgendwann irgendeine der Therapieteilnehmerinnen redete, um sich selbst zu retten. Wir mussten einander bespitzeln, verraten und überwachen.
Man wurde bestraft, wenn man nicht laut betete, während des Lobpreises nicht genug mitmachte, mitsang oder nicht im richtigen Moment aufstand. Die Leiterin platzte in mein Zimmer, wenn ich im Bett war, und sie nahm mir meinen Zimmerschlüssel weg, damit ich nicht mehr abschliessen konnte, wenn ich mich umzog.
Sie wussten geschickt geistliche und psychische Gewalt einzusetzen, damit ich nicht weggehen konnte, sondern immer wieder einwilligte, meinen Aufenthalt zu verlängern, auch wenn ich es nicht wollte. Sie sagten, ich würde sowieso gleich wieder in der Psychiatrie landen, wenn ich von ihnen wegginge. Oder sie sagten, es wäre sowieso nicht Gottes Wille, von ihnen wegzugehen. Sie sprachen, als wären sie die Einzigen, die Gottes
Willen für mein Leben kennen würden. Und ich hatte nicht die innere Kraft, mich zu wehren!
Tat ich einmal nicht sofort das, was sie von mir verlangten, hiess es:
"Wenn du jetzt nicht machst, was wir wollen, musst du nachher nicht kommen und Hilfe suchen!" Ich brauchte Hilfe, also tat ich, was sie wollten, ob ich selbst es wollte oder nicht.
Das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Mein Aufenthalt in dieser WG war zu lang. Genau so viel zu lang, wie ich dort gewesen bin! Die Wirklichkeit war härter, unbarmherziger und voller Albträume, auch im Wachzustand, als ich es hier auf Papier ausdrücken kann! Unter Albträumen leide ich noch heute, mehr als zwei Jahre nach der Befreiung. Doch sie wandeln sich langsam. Ich kämpfe, ich halte stand, ich sage, was ich immer hinunterschlucken musste – und dann laufe ich doch wieder weg und habe nur noch Angst davor, sie könnten mich finden und zurückholen...
Schlimm war vor allem auch, dass ich niemanden um Hilfe bitten konnte. Nicht einmal mein Tagebuch erfuhr die Wahrheit. Ich war durch entsprechende Schulung als Kind so genial im Verdrängen, dass ich lange Zeit nicht wusste, dass die Schuld an meinem Unbehagen, meiner Beklemmung in Bezug auf die WG, nicht meine eigene war, sondern die von geistlichen Missbrauchern! Lange dachte ich, dass ich mich zu wenig eingebe, hingebe, aufgebe und zu wenig willenlos bin, um nur noch zu wollen, zu tun und zu denken was sie mir vorschrieben.


18.11.98

Info: Ich selbst erinnere mich ja nicht mehr an diese Therapiestunde. Ich habe nur noch das, was ich in mein Tagebuch geschrieben habe. Tabita, meine Therapeutin, sagt, dass ich an dem Tag völlig unzugänglich gewesen sei. Um einen Zugang zu schaffen, habe sie mir einige Vorschläge unterbreitet. Von anderen ähnlichen Momenten weiss ich, dass sie zum Beispiel vorschlägt, Knete in die Hand zu nehmen, zu formen und dabei zu spüren, was sich in mir tut und das zu artikulieren. Oder mit einer Collage oder mit Malen an das zu kommen, was in mir vorgeht und was mich blockiert. Damals habe ich mich fürs Kneten entschieden. Meine Hände sprachen für mich und dann fand ich auch wieder Worte – und Tränen – und Zorn.


21.11.98

Heute Morgen hatte ich ein totales Tief. Folgende Gedanken tobten in meinem Kopf:
Warum kann ich nicht normal leben und arbeiten? Warum werde ich gestraft damit, dass ich nicht normal leben kann? War denn der Missbrauch nicht genug? Warum durfte er mein Leben zerstören? Mich zerstören? Der Missbrauch alleine war schlimm genug! Warum darf er auch mein ganzes Leben zerstören?
Tabita sagt, ich müsse meinen Kopf einschalten. Sexueller Missbrauch werde mit Konzentrationslager und Kriegserfahrungen gleichgesetzt. Das sind Traumata, die nicht auszulöschen sind. Irgendwann werde ich damit
leben können und es wird nicht mehr so schlimm und schwierig sein – sagt Tabita.